"Wir sind alle gezwungen, Theorien über die Welt, das Leben, die Wirtschaft, Investitionen, die Karriere etc. aufzustellen. Ohne Annahmen geht es nicht", so schreibt Rolf Dobelli in seinem Buch "Die Kunst des klaren Denkens". Und das stimmt auch. Wir wissen nämlich sehr wenig – trotz des Wissens, dass die Menschheit mittlerweile angesammelt hat – und so sind wir abhängig von Annahmen und Überzeugungen, die wir aus Beobachtungen, Erzählungen und eigenen Erfahrungen ziehen. Häufig genug wiederholt leiten wir daraus Glaubenssätze ab. Das sind dann nicht nur Annahmen, sondern für uns schon Überzeugungen, ja, Gewissheiten. Wir brauchen eine Idee davon, "wie die Welt tickt", um einschätzen zu können, was uns erwartet und was wir erwarten können. Warum brauchen wir eigentlich diese Annahmen, Theorien und Glaubenssätze? Dahinter dürfte wie so häufig der Sinn verborgen sein, Sicherheiten in einem schier unendlich unübersichtlichen Leben zu schaffen. Sicherheiten, die uns handlungsfähig machen. Annahmen, noch mehr Gewissheiten schaffen für jeden Einzelnen Tatsachen, wodurch uns das Denken, Bewerten und Handeln leichter fällt. Doch – und hier setzt Dobelli an – sind viele (wahrscheinlich die meisten) unserer Annahmen und Gewissheiten nicht oder nicht ganz korrekt, was er als den typischen Denkfehler "Confirmation Bias" beschreibt. Denn diese Überzeugungen, Gewissheiten oder Glaubenssätze führen dazu, dass wir quasi auf einem Auge blind werden. Wir erkennen nur die Bestätigung, nicht den Widerspruch unserer Theorie. Wenn wir z.B: den Glaubenssatz in uns tragen "alle Menschen sind irgendwie hinterlistig", so werden wir uns bei jeder neuen Begegnung auf diesen Aspekt des Menschen konzentrieren und leugnen, dass es Ausnahmen gibt. Wir werden für Widersprüche unempfänglich, erkennen sie nicht mehr. Doch übersieht Dobelli etwas Wesentliches: Nicht erst als Erwachsene beginnen wir Annahmen aufzustellen, nein, schon viel früher, nämlich seit Kindesbeinen an. Und gerade diese, in unserer Entwicklung weit zurückliegenden Annahmen, bilden nicht selten die Basis einer seelischen Störung. Sie werden während unserer kindlichen Entwicklung zunehmend ein Teil von uns, indem sie ins Unbewusste gelangen. Wenn Rolf Dobelli also diese "Confirmation Bias" angehen will, dann bedarf es erst einmal der Bewusstwerdung dieser Annahmen, Überzeugungen und Glaubenssätze bei seinen Lesern und dies ist – wie wir aus der Psychotherapie wissen – nicht mal eben so gemacht. Denn die Verschiebung ins Unbewusste hatte eben auch Gründe, denen wir nun auf den Leim gehen wollen.

a)Unser Gehirn ist so konzepiert, dass es Prozesse, die sich wiederholen (Denken, Handeln, Fühlen) ins Unbewusste verschiebt, um den Umstand des Darübernachdenkens, Abwägens und Entscheidens abzukürzen und damit energetisch sparsamer zu gestalten. Denn, wenn sowieso immer die Erwartungen, die aus den Annahmen oder Gewissheiten folgen, bestätigt werden, warum dann noch eine Kopf machen? Unser Gehirn kann sich hier also Zeit und Arbeit ersparen!

b)Ist eine Gewissheit oder Überzeugung erst einmal im Unbewussten, so ist es für unser Bewusstsein zunächst nicht mehr zugänglich und kann nicht in Frage gestellt werden. Es vermittelt das Gefühl von Sicherheit und schützt gleichzeitig vor dem Gefühl, aus dem diese Überzeugung erwachsen ist, nämlich den mit unserem Leben einhergehenden vielen kleinen Frustrationen. Unser Gehirn kann nämlich erstaunlich gut seelischen Schmerz z.B. durch Enttäuschungen binden!

c)Schließlich der wesentliche Grund, der auch zum Kern von seelischer Krankheit führen kann. Wiederholte als leidvoll erlebte Erfahrungen – meist in unserer frühen Kindheit – führen zu Gewissheiten, deren Inhalt ins Unbewusste verschieben werden muss. Denn durch die Verschiebung ins Unbewusste wird der mit den Erfahrungen erlittene Schmerz dann als nicht mehr so intensiv oder problematisch erlebt, er kann sogar vergessen werden. Es ist also nicht selten Schmerzhaftes und Leidvolles, was den ursprünglich kindlichen Organismus aufgrund von Überforderung dazu nötigt, Annahmen ins Unbewusste zu verschieben. Und logisch ist das allemal: Da ein Kind die Strategien eines Erwachsenen noch nicht besitzt, muss es mit dem ihm zur Verfügung stehenden Werkzeug eingreifen. Je früher in der Entwicklung, umso rigoroser und gröber das Werkzeug. Ob die Werkzeuge Spaltung, Verleugnung oder Verdrängung genutzt werden hängt meist davon ab, wie die Entwicklung vor dem wiederholten Leid verlaufen ist und wie gut die Bezugspersonen ihre Aufgaben dem Kind gegenüber erfüllt haben.

Um nun den umgekehrten Schritt (um Herrn Dobelli gerecht zu werden) zu wagen, nämlich die Annahmen wieder ins Bewusstsein zu holen, sollten wir wissen, dass wir nicht so einfach zum Unbewussten vordringen können. Denn der Eingang wird bewacht. Der Wächter – so erkannte schon Sigmund Freud – ist nicht nur ein sehr aufmerksamer Zeitgenosse, der sofort durchschaut, was das Gegenüber (Therapeut) plant, er bietet ebenfalls "ordentliche" Abwehrmechanismen und Widerstände, um es dem Eindringling besonders schwer zu machen (nähere Beschreibung unter "Abwehrmechanismen"). Freiwillig gibt er nichts aus dem Unbewussten preis.

Also, Herr Dobelli, ein reines darüber Nachdenken, um das Problem der Confirmation Bias anzugehen und zu lösen, reicht meist nicht. Es bedarf viel mehr des Bewusstseins, dass wir Menschen Verdrängungskünstler sind und eben durch den Blick in den Spiegel nicht gleich erkennen, was an unseren Annahmen falsch ist!